Warum bin ich Musiklehrer?

(September 2009 / Februar 2010)

Durch alle Epochen der Menschheit zieht sich die Musik als unverzichtbarer, als manifester Tatbestand, ohne den es keine Kultur, kein Erkennen und Erfahren der Welt geben kann.

"Erziehung ist Selbsterziehung". Mit diesem Satz brachte Rudolf Steiner ein Grundelement der Pädagogik auf den Punkt. Gerade in der musikalischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bestätigt sich diese kurze Aussage wieder und wieder.

Herausforderungen

Soziale Prozesse durch Musik sind der eine Pol meiner Arbeit. Individuelle Entwicklung im Fachbereich Musik ist der andere.

Wissensvermittlung ist mehr oder weniger stillschweigendes Abkommen. Fachmann ohne (für die Schüler erkennbare) Mängel zu sein ist Grundvoraussetzung. Verständnis zu haben, dass die Schüler ja noch einiges mehr zu tun haben als den Musikunterricht zu besuchen und ihn gern als Freiraum zwischen wichtigeren Anforderungen (wie Sprachen, Mathe, Sport, eigenen Interessen und je nach Altersstufe unaufschiebbaren persönlichen Dramen, die es auszuleben gilt) betrachten ist eine tägliche Geduldsprobe für den Musiklehrer.

Schreiben über Musik ist meiner Ansicht nach so etwas wie Lesen in einem Kochbuch. Es stillt keinen Hunger. Musik ist aktives Tun, aktives Hören, aktive Stille. Musik schwingt und kribbelt im Bauch. Dies immer wieder mitzuteilen, ist mein Ziel. Einige Gedanken und Erfahrungen zu meiner Arbeit möchte ich aber doch gern weitergeben.

Didaktisches

„Erziehen heißt ein Licht anzuzünden und nicht, ein Fass zu füllen.“ Dieser Satz wird dem Philosophen Heraklit zugeschrieben. Gerade im Musikunterricht beweist er sich wieder und wieder.

Die vermutlich älteste Partitur der Menschheit ist etwa 2000 Jahre alt. Gehauen in Stein erinnerte ein Grieche namens Seikilos mit einem vierzeiligen Lied daran, dass es keinen Sinn macht, die kurze Zeit des Lebens mit Trauer und Grübeln zu verbringen.

„Wenn du möchtest, dass dein Schüler lernt, ein Schiff zu bauen, dann schicke ihn nicht auf die Werft. Entfache in ihm die Sehnsucht nach der Weite des Meeres. Er wird sich selbst auf den Weg machen.“ Aber ein bisschen Werft muss der Musiklehrer eben auch bieten, Handwerkliches mit Künstlerischem verbinden, um den Weg zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schüler zu ermöglichen. Ohne die Quellen der Vergangenheit, ohne den Schatz der mitteleuropäischen Musiktradition im besonderen und dem Weltkulturerbe im allgemeinen würden wichtige Erfahrungen einfach fehlen.

Es gab und gibt außereuropäische Kulturen, die Musik als das Medium zwischen Kosmos und Mensch verstehen. Kann man das Wesen einer Schulgemeinschaft an der Musik erkennen, die in ihr klingt? Aber leider bleibt schon im schulmusikalischen Alltag wenig Zeit für gründliche Analysen bekannter Werke. Dabei hat die klassische chinesische Musik hier ebenso ihre Berechtigung wie die Musik Indiens, Afrikas, der Indianer ...

Warum begeistert es mich nach 15 Jahren noch immer, diese Arbeit zu tun?

Fühlen, Denken und Wollen miteinander in ein Gleichgewicht zu bringen, immer wieder neu, ist wohl eine der Hauptaufgaben im Fachbereich Musik. Gerade in der Chor- und Orchesterarbeit zeigen sich viele Barrieren, Ängste, Hemmungen, Unsicherheiten und Selbstzweifel, die es erst einmal zu überwinden gilt, um schließlich zu einem sinnvollen, konstruktiven Miteinander finden zu können. Aktives Musizieren bringt viele Möglichkeiten mit sich, aufmerksamer auf sich selbst und die anderen zu werden. Eine Beobachtung kann ich wieder und wieder machen: die sozialen Kompetenzen einer Klasse verhalten sich kongruent zur Fähigkeit gemeinsam zu singen.

Auch Durststrecken gehören zum Alltag eines Musiklehrers, der so gern so vieles auf einmal weitergeben möchte. Durststrecken gehören aber auch zum Alltag einer Schülerin, die ihre Geige nur deshalb vergaß, weil die große Schwester nach dem Frühstück den ganzen Familienbetrieb ausbremste, um mit ihrer Freundin am Handy ach-so-wichtiges zu kommunizieren. Wäre die praxis-orientierte Ebene  des Musikunterrichtes ein Schachspiel, fänden sich Lehrer und Schülerin in einer solchen Situtation im Patt auf einer gemeinsamen Ebene wieder. Starke Bäume wachsen eben langsam.

Immer wieder erstaunt es mich, wie aus den ersten suchenden Geigentönen einer Schülerin der vierten Klasse nach ein paar Jahren erstaunliche Fertigkeiten entstanden sind und wie viel Stolz und Freude dann aufstrahlt, wenn Souveränität zum eigenen Gestalten eines Stückes führt.

Gemeinsam ist schöner als einsam

Ohne die Zusammenarbeit mit dem Klassenlehrer müsste ich viele Räder neu erfinden, die schon lange in Bewegung sind. Kurze Kommunikationswege, gemeinsames Planen und manchmal auch Handeln ermöglichen sogar ein Konzert mit zwei Schulklassen an einem Nachmittag in einem Altersheim. Aber auch innerhalb der Schule wird die Organisation der musikalischen Arbeit durch kollegiales Miteinander zu einem gemeinsamen Anliegen, das bei Schülern und Eltern Resonanz erfahren kann.

Fächerübergreifendes Arbeiten ist für mich auch in der Oberstufe zur Selbstverständlichkeit geworden. Das Fach Deutsch ist unentbehrlich für die Analyse eines Kunstliedes der Romantik. Das Fach Geschichte hilft beim Erkennen von Zusammenhängen zwischen politischen Ereignissen und musikalischen Phänomenen. Die Geometrie der sechsten Klasse trifft sich mit dem Zeichnen des Quintenzirkels. Die Eurythmie unterstützt das Erlernen der Intervalle, die Musik unterstützt die eurythmische Arbeit. Der Musiklehrer kann mit einem zehnstrophig gesungenen „Ein mal eins ist eins …“ auf eine spontan „erfundene“ Melodie einen neuen Impuls im Kopfrechnen der Unterstufe setzen oder ein Theaterprojekt der Oberstufe durch musikalische Beiträge der Schüler „aufwerten“.

Die Praxis

Entwicklung und Prozess als Teil des Entstehens musikalischer Bildung zu erleben und nicht nur auf momentane Resultate zu schauen, ist für mich ein wichtiger methodischer Ansatz. (Das ist allerdings keine Aufforderung sich zurückzulehnen, weil „die anderen machen das schon“.)

 „Singen ist das Fundament in allen Dingen“ schrieb G. Ph. Telemann in einem Vorwort zu einer Schule der Generalbasslehre. Noch ganz ohne einen bezifferten Bass oder instrumentale Begleitung beginnt das Singen im Kindergarten und nimmt in den ersten Schuljahren einen selbstverständlichen Platz ein. Die Pentatonik als bewusste Eingrenzung des melodischen Materials ermöglicht in den ersten beiden Schuljahren das Spielen auf der pentatonischen Flöte und der Kinderharfe als für alle Schüler erlebbare gemeinsame Aktivität.

Mit der Entscheidung für ein eigenes Instrument überschreiten Schüler dann den Rubikon und erobern sich Schritt für Schritt neue, eigene Welten – oder entdecken andere Begabungen in sich, die sie entwickeln möchten.

So sind Rhythmusdiktate, intensive praktische musikalische Arbeit und der jeweiligen Situation angepasste Orchesterarrangements kleinerer Werke aus der Zeit der Barock und der Klassik sowie Liedarrangements für die Mittelstufe in den Klassen 5 und 6 der Schwerpunkt der gemeinsamen Arbeit. "The sky is the limit" - aber unter dem Himmel aufstrebender Virtuosität kann es so auch eine ruhige Landschaft der leeren Saiten für beginnende Cellisten geben.

Einige Entwicklungsschritte im individuellen Leben der Schüler finden Entsprechungen in der Musikgeschichte. So ist es immer wieder ein ganz besonderes Erlebnis für mich, mit einer sechsten oder siebten Klasse einige Stücke aus Mozarts "Zauberflöte" singend zu erarbeiten. Wie fühlt es sich an, die Arie der Königin der Nacht mit den eigenen stimmlichen Möglichkeiten (selbstverständlich tiefer transponiert) auszuprobieren? Wie sicher kann ich meiner eigenen Stimme als Pamina sein, wenn Papageno seinen Part im Duett "Bei Männern, welche Liebe fühlen" dazu singt? Warum genügen die Dreiklänge der Kadenz völlig für Papagenos Glockenspiel? Wer schafft es, die Melodie der Zauberflöte (eine Quinte tiefer als im Original) auf der Blockflöte zu spielen?

In der achten Klasse steht die Instrumentenkunde zentral. Neben diesem "roten Faden", der sich durch den Unterricht dieser Altersstufe zieht, dürfen aber auch einige populäre Songs nicht fehlen. Gerade da haben Schüler ein sehr gutes Gespür für das, was machbar ist.

Die Arbeit in der Oberstufe berücksichtigt Schlüsselwerke aus dem Barock, aus der Klassik, der Romantik und dem letzten Jahrhundert.

(Das bedeutet dann in der Praxis, eine zehnte Klasse nach der Mittagspause mit dem Heiligenstädter Testament zu faszinieren zu versuchen, mit Drama, mit „Zweifel – Kampf – Sieg“ als „Programm“ des Individualisten Ludwig von Beethovens, derweil die eine ihren Kaugummi kaut und der andere heimlich schon an den Mathe-Hausaufgaben ist und alle nur darauf warten, dass sie nun endlich irgendetwas bequemes singen können. „Singing all together“ hat sich als Patentrezept erwiesen, erstaunlicherweise funktioniert das sogar bei Oberstufenkollegen … Aber es bedeutet auch, auf individuelle Wünsche einzugehen, Repetitor für Faurés „Elegie“ zu sein oder Nachhilfe in Sachen „Gitarrengriffe“ zu geben, später am Tag.)

Dass Musik auf Gesetzen beruht, wird durch die Betrachtung der Tonleitern und der daraus entstehenden Dreiklänge deutlich. Warum ein Claude Debussy mit der Ganztonleiter ein bestehendes Regelwerk mühelos durchbrach, erahnen Schüler einer elften Klasse. Schuberts "Winterreise", vor allem das erste Lied, mit jungen Erwachsenen zu entdecken, ist immer wieder ein ganz besonderes, einmaliges Erlebnis für mich.

Die Emanzipation der zwölf aufeinander bezogenen Töne im letzten Jahrhundert findet ihren Bezug in vielen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Biographie Arnold Schönbergs und seine Aussage, Musik müsse nicht schön, sondern wahr sein, macht Zeitgeschichte plötzlich im Musikraum zum Härtetest. Wer schafft es, zwei Minuten lang seine Musik objektiv anzuhören und kann dann diese Erfahrung sachlich verbalisieren?

Schließlich gehört zur musikalischen Praxis das Oberstufenorchester. Die Arbeit mit den älteren Schülern erlebe ich als eine große Chance, Kompositionen wie die "Bilder einer Ausstellung" oder "Peter und der Wolf" in geeigneter Bearbeitung erfahrbar zu machen und zum Klingen zu bringen. Aber auch populäre amerikanische Musik des letzten Jahrhunderts, ein Klezmerstück oder die Bearbeitung eines Schüblerchorales von J. S. Bach werden im Oberstufenorchester lebendig.

Der Musiklehrer hat dafür die letzte Stunde des Montages und weiß, dass es wenig bringt, wenn er daran erinnert, dass jeder für seine Noten selbst verantwortlich ist. Gut, dass ein USB-Stick in sein Schreibmäppchen passt, auf dem er alle Vorarbeit gespeichert hat und PC und Drucker im Musikraum funktionieren. Er versteht, dass das Wochenende lang war und niemand an alles zugleich denken kann (wenn ein Instrument fehlt). Er fordert keine Leistungen ein, wenn ein sportlich begabter Schüler sich gähnend müde über sein Cello lehnt – sein Sonntag war für ihn wohl eher Training und jetzt geht grad nichts mehr. Die jungen Damen, deren Alibis Harfe und Sopransaxophon heißen, scheinen Interessantes im Kino erlebt zu haben …

Aber - wenn es wirklich darauf ankommt, sind alle da. Ein Konzert auf dem Place d’Armes im Juli 2009, ein anderes kurz nach den Sommerferien in der ältesten Kirche der Stadt Luxemburg haben es mich ebenso tief erfahren lassen wie die vielen musikalischen Beiträge zu Monatsfeiern, zu Weihnachtskonzerten, zu Sommerfesten, wieder und wieder.

Ein Experiment

Es ist schon ein paar Jahre her. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist der genaue Termin am besten mit „es war einmal“ zu umschreiben.

Es war einmal ein Musiklehrer, der träumte von einem guten musikalischen Klima in seiner Schule. So lud er also die Eltern und Kollegen ein, mit ihm das zu singen und zu erarbeiten, was er mit ihren Kindern übte.

Die einen hatten Terminprobleme. Die anderen entschuldigten sich, weil sie keine Noten lesen konnten. Einige Väter offenbarten sich mit der Erklärung, sie sängen nur unter der Dusche.

Aber es gab auch ein paar Mütter, die sich auf das Experiment einließen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lachen sie noch heute, wieder und wieder an den Schulsamstagen, von halb neun bis halb zehn und singen tun sie auch noch immer, die unverdrossenen Aktiven des Elternchores.

Danke!

Für all das, was in den vergangenen Jahren  in der Waldorfschule Luxemburg um mich herum an musikalischen Aktivitäten entstanden ist, danke ich meinen Schülern, ihren Eltern und meinen Kollegen.